Seit Jahrzehnten leiden nicht nur die Noten unter den strukturellen Problemen des Bildungssystems, sondern vor allem die Kinder selbst. Worauf es jetzt ankommt und wie die Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Politik funktionieren kann.

Ende vergangenen Jahres veröffentlichte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Ergebnisse des letzten „Programme for International Student Assessment“, besser bekannt als Pisa-Studie. Deutschland schnitt dabei so schlecht ab wie noch nie zuvor. Nur noch im Bereich Wissenschaft lagen deutsche Schüler signifikant über dem Durchschnitt, in Mathematik und Lesen entsprechen sie diesem. Dabei sind die Probleme in Deutschland weder überraschend noch neu. Im Gegenteil: Sie sind seit Jahrzehnten bekannt. „Der größte Schock und gleichzeitig die größte Ernüchterung war zu sehen, dass es trotz dieses größtmöglichen Warnsignals kaum einen öffentlichen Aufschrei oder politische Initiativen gab“, sagt Florian Fabricius, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz.

„Ich persönlich finde, Stiftungen und gemeinnützige Initiativen haben eine wichtige Funktion in unserem Bildungssystem.“
Florian Fabricius, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz

Das unterscheidet bisher die aktuellen Reaktionen von denen aus dem ersten Pisa-Schock im Jahr 2001. Damals brachten Bund und Länder einige Reformen auf den Weg. Verglichen damit bleiben die Reaktionen aus Politik und Zivilgesellschaft derzeit verhalten. Dabei ist Bildungsgerechtigkeit als Ziel tief im gesellschaftlichen Leben verankert. „Hochwertige Bildung“ rangiert hierzulande als eines der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDG) unter den beliebtesten Stiftungszwecken überhaupt. Laut dem Bundesverband Deutscher Stiftungen sind in 30 Prozent der deutschen Stiftungen Bildung und Erziehung satzungsmäßig verankert. Nur der Stiftungszweck „soziale Dienste“ ist öfter vertreten.

Synergien durch Bildungsinitiativen

Laut einer Studie der „Zivilgesellschaft in Zahlen“ (ZviZ) von 2018 engagieren sich rund 16 Millionen Bürger in 300.000 Organisationen im Bildungsbereich. „Ohne dieses Engagement könnten wir unser breites Bildungsangebot gar nicht in diesem Ausmaß aufrechterhalten“, kommentierte die damalige Ministerin des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), Anja Karliczek (CDU), die ZviZ-Studie aus 2018. Das BMBF unterstützt gemeinnützige Bildungsinitiativen, klassischerweise auf Basis von Förderbekanntmachungen.

Florian Fabricius ist Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz. Foto: Elena Koch

Im entsprechenden Haushaltskapitel „Leistungsfähigkeit des Bildungswesens, Nachwuchsförderung“ sind für 2024 rund 5,7 Milliarden Euro veranschlagt. Das ist mehr als ein Viertel des diesjährigen BMBF-Haushalts. Aus demselben Topf speisen sich jedoch auch die Mittel für das Bafög und den Digitalpakt. Wie viel Geld dabei speziell dem gemeinnützigen Bildungsengagement zufließt, werde hingegen nicht kategorisiert, so eine Sprecherin des BMBF auf Anfrage.

„Ich persönlich finde, Stiftungen und gemeinnützige Initiativen haben eine wichtige Funktion in unserem Bildungssystem“, sagt auch Florian Fabricius. Gerade Erstere brächten oft die finanziellen Rahmenbedingungen mit, um gezielt Bildungsaufgaben zu erfüllen. Außerdem biete der gemeinnützige Sektor die Strukturen, verschiedenste Akteure unter einen Hut zu bringen und Synergien zu schaffen, so der Schülervertreter.

Brücke zwischen Schule und Beruf

Einer, der sich für die Zukunft der Schwächsten im deutschen Schulsystem einsetzt, ist Franz-Josef Fischer. Der ehemalige Unternehmer ist Gründer und Vorstandsvorsitzender der operativen Strahlemann-Stiftung aus Heppenheim. Kernstück des Engagements der Stiftung sind die sogenannten Talent Companies. Das sind multimediale Fachräume, in denen Schüler zur Berufsorientierung ermutigt und bei der Jobsuche aktiv begleitet werden. Hierfür schult die Stiftung die Lehrkräfte vor Ort mit einem zugeschnittenen Berufsorientierungscoaching. An rund 70 verschiedenen Standorten ist die Strahlemann-Stiftung vertreten.

„Alle müssen enger zusammenrücken, um sich für Chancengerechtigkeit einzusetzen.“
Franz-Josef Fischer, Vorstandsvorsitzender der Strahlemann-Stiftung

Ausbildende Unternehmen, die in der Nähe der jeweiligen Schule ansässig sind, können als Partner einer Talent Company auftreten. Der Strahlemann-Stiftung und der jeweiligen Schule fließt dabei je die Hälfte des Betrags zu, der für die Partnerschaft jährlich anfällt. Die Firmen wiederum erhalten im Gegenzug die Möglichkeit, sich per Plakat den Schülern als Arbeitgeber zu präsentieren und im Raum mit Schülerinnen und Schülern in Kontakt zu kommen – Jobwall-Partner nennt sich das. In Zeiten massiven Fachkräftemangels ein attraktives Angebot. 2022 erreichten die Talent Companies laut eigenen Angaben rund 30.000 Schüler. „Die Idee ist es, alle an einen Tisch zu bekommen“, sagt Fischer.

Umgesetzt werden kann eine Talent Company jedoch nur dann, wenn sich eine Schule, Schulträger, Förderer und die Strahlemann-Stiftung Hand in Hand für das Projekt entscheiden. Denn während die Stiftung für die Ausstattung der Talent Companies aufkommt und lokale Unternehmen als Sponsoren akquiriert, muss der Schulträger zunächst die räumlichen Voraussetzungen schaffen.

„Alle müssen enger zusammenrücken“

Wie notwendig eine bessere Vermittlung von Kindern mit niedrigeren Schulabschlüssen in den Arbeitsmarkt ist, zeigen die Zahlen: Rund ein Drittel der heute 20- bis 34-Jährigen mit Hauptschulabschluss bleibt ohne abgeschlossene Ausbildung.

Katja Hintze ist Vorstandsvorsitzende der Stiftung Bildung. Foto: Stiftung Bildung/Moritz Melms

Den Grund hierfür sieht Fischer nicht zuletzt im Umgang der Gesellschaft mit den Schülern. „Das sind ganz tolle und talentierte Kinder, aber die bekommen immer nur gespiegelt, dass aus ihnen nichts wird.“ Stattdessen müsse man diesen Schülern Perspektiven aufzeigen und sich vor allem aktiv kümmern. Dann blühten die Kinder förmlich auf, erzählt er.

Fischer selbst hat erlebt, was es heißt, eine Chance zu bekommen. „Hungern mussten wir zu Hause nicht, aber für Urlaub, Kultur oder dergleichen war kein Geld da“, sagt er. Nach der mittleren Reife und der Lehre zum Industriekaufmann machte er sich in den 1990er Jahren erfolgreich selbstständig. Die JF Group, die er 2019 als Geschäftsführer verließ, bildet über dem Branchendurchschnitt aus.

Bereits Ende der Achtziger organisierte er Patenschaften für hilfsbedürftige Kinder in Portugal. „Ich habe mich immer gefragt, was andere davon haben, dass es mich gibt“, begründet Fischer sein langjähriges Engagement. 2002 gründete er den Verein Strahlemann, aus dem 2008 die gleichnamige Stiftung hervorging. Von der Zivilgesellschaft erhofft sich Fischer unterdessen mehr Zusammenarbeit. „Alle müssen enger zusammenrücken, um sich für Chancengerechtigkeit einzusetzen.“ Nicht nur die Politik und Institutionen, sondern auch die Stiftungen, Unternehmen und Schulen untereinander.

Eine Lobby für Kinder

In Deutschland bestimmt die soziale Herkunft eines Kindes überdurchschnittlich seine schulischen Kompetenzen. 2022 erreichten privilegierte Kinder durchschnittlich 111 Punkte mehr im Pisa-Test als sozial benachteiligte Kinder. Dieser Vorsprung liegt im OECD-Durchschnitt bei 93 Punkten. Das macht das deutsche Bildungssystem nicht nur unterdurchschnittlich bei der Vermittlung von Kompetenzen, es ist dabei noch in sich ungerecht. „Dass Bildung das Zukunftsversprechen unseres Landes und ein soziales Sprungbrett ist, mag ein schönes Ziel sein. Von der Realität in unseren Schulen ist es aber noch meilenweit entfernt“, sagt Fabricius.

„Die Bildungsmisere hat auch damit zu tun, dass das Thema nach den Wahlen sofort aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet.“
Katja Hintze, Vorsitzende der Stiftung Bildung

Diesbezüglich kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem attestiert Katja Hintze, Vorsitzende der Stiftung Bildung, der deutschen Politik. Ihre 2012 gegründete Stiftung versteht sich als Spenden- und Lobbyorganisation und setzt sich für die bestmögliche Bildung von Kindern ein.

Auslöser für die Gründung der Stiftung waren dabei die eigenen negativen Erfahrungen. „Wir waren eine Gruppe von zehn ehrenamtlichen Menschen, die teilweise bereits jahrzehntelang mit dem Bildungswesen zu tun hatten, und haben festgestellt, dass es immer schlimmer wird.“ Im Vergleich zu anderen Bereichen des öffentlichen Lebens kamen sie zu der Erkenntnis, dass in Deutschland keine zivilgesellschaftliche Lobby für Bildungsfragen existiere. Das wollte man ändern und Bildungspolitik langfristig auf der öffentlichen Agenda halten. „Die Bildungsmisere hat auch damit zu tun, dass das Thema nach den Wahlen sofort aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet“, so die studierte Kommunikationswissenschaftlerin.

Youtube-Video statt Schulstunde

Um dem entgegenzuwirken, führt die Stiftung Bildung Gespräche mit Entscheidungsträgern auf Bundes- und Länderebene, verfasst Positionspapiere oder formuliert Appelle an die Politik. So will die Organisation dem Bildungsengagement eine Stimme geben und im öffentlichen Diskurs repräsentieren. So wie im vergangenen Sommer.

Franz-Josef Fischer gründete die Strahlemann-Stiftung. Foto: Strahlemann-Stiftung

Damals beteiligte sich die Stiftung an der gemeinsamen Forderung eines breiten Bündnisses nach einem Sondervermögen Bildung in Höhe von 100 Milliarden Euro. Eine Forderung, die viele weitere Stimmen aus der Öffentlichkeit wiederholten und schließlich auch in Form zweier Anträge in den Bundestag durch die Linke aufgegriffen wurde. Die Anträge wurden erwartungsgemäß abgelehnt, doch der Vorschlag erlangte mediale Aufmerksamkeit.

Zuletzt lagen die Bildungsausgaben der öffentlichen Hand mit rund 176 Milliarden Euro bei 4,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). „Gemessen am BIP müssen wir perspektivisch zehn bis zwölf Prozent jährlich in Bildung investieren“, hält Hintze fest. Anders könnten die notwendigen Schritte, um Deutschlands Bildungseinrichtungen zukunftsfähig zu machen, nicht vollzogen werden. Für Florian Fabricius sind es dabei drei zentrale Themen, bei denen das deutsche Bildungssystem klaffende Lücken aufweist. Zum einen die Digitalisierung, die nicht nur zu langsam und zu zögerlich anläuft, sondern dabei auch noch falsch angegangen wird. „Es reicht nicht, Schülern nur Geräte zur Verfügung zu stellen, man muss ihnen auch die notwendigen Skills an die Hand geben“, so Fabricius. Zum anderen der Lehrermangel, der zu massivem Stundenausfall führt, sodass sich Schüler nicht selten in Eigenverantwortung per Youtube-Videos und Schülerbüchern neuen Stoff aneignen müssen. Laut der Kultusministerien fehlen rund 15.000 Lehrkräfte, in zehn Jahren könnten es 68.000 sein.

Und schließlich das Thema der mentalen Gesundheit, das weiterhin nicht ernst genug genommen wird. Nicht nur würden die Folgen der Pandemie für die Schüler nicht richtig aufgearbeitet, auch Mobbing und Einsamkeit unter jungen Menschen nähmen immer weiter zu. 2022 zählte das Statistische Bundesamt 192 Suizide unter Jugendlichen und Kindern. „Es ist frustrierend, wie wenig Verständnis uns von älteren Generationen beim Thema mentale Gesundheit entgegenkommt“, sagt Florian Fabricius

Pisa als Realität deutscher Schüler

Die Aufgaben von Stiftungen sieht Hintze darin, die Politik immer wieder auf diese Versäumnisse hinzuweisen und wichtige Lücken zu füllen. „Wenn es um die Bewältigung von Krisen geht oder von Ad-hoc-Situationen, dann wird das nicht der Staat leisten können – schon gar nicht alleine“, sagt Hintze. Gemeinnützige Akteure hingegen könnten ihrer Meinung nach zielgerichteter agieren. Auch die Stiftung Bildung fördert unterschiedlichste Projekte und Patenschaften. So ist sie auch Träger der Bundesschülerkonferenz, die die Schüler repräsentiert.

Als einzige Programmträgerin fördert die Stiftung Bildung mit Mitteln des BMBF die aktive Beteiligung von 14- bis 27-Jährigen am UN-Programm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Das Programm hat die Verfolgung der internationalen SDGs im Sinn und stellt dabei das Thema Bildung in den Fokus. In Deutschland trifft sich über die „Plattform BNE“ zweimal jährlich ein Kreis von Entscheidungsträgern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, um das Thema Bildung zu diskutieren. Dass dort auch die Schüler Gehör finden, ist unabdingbar, denn „das, was Pisa offengelegt hat, sind Erfahrungen, die wir Schüler tagtäglich erleben“, so Fabricius.

Aktuelle Beiträge