Die Initiative Medizinhilfe Karpato-Ukraine leistet seit Jahrzehnten humanitäre Hilfe für Kliniken und Patienten in der Ukraine. Mit dem Überfall Russlands im Februar 2022 hat sich ihre Arbeit massiv gewandelt, aber ist für die Ehrenamtlichen auch zu einem Mittel gegen das eigene Ohnmachtsgefühl geworden.

Seit mehr als 25 Jahren organisiert die „Medizinhilfe Karpato-Ukraine“ aus dem Rhein-Main-Gebiet Transporte medizinischer Hilfsgüter in die Ukraine. Seit Beginn des Krieges vor zwei Jahren hat sich die Arbeit der Initiative rund um die Gründerin Martina Scheufler und Stellvertreter Martin Weindel massiv ausgeweitet. Inzwischen liefern sie Hilfsgüter bis tief in das Landesinnere und die Frontgebiete – von der OP-Maske bis zur tonnenschweren OP-Ausstattung. Ende des vergangenen Jahres wurde die Organisation in der Sonderkategorie des Deutschen Engagementpreises gewürdigt.

1996 begann alles mit einem Besuch Scheuflers in den Kliniken Mukatschewos, rund 50 Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt. Dieser kam durch eine Zusammenarbeit der lokalen evangelischen Gemeinde und der Gemeinde in Hanau zustande. Der Oblast Transkarpatien, in dem die 80.000-Einwohner-Stadt liegt, ist eine strukturschwache und vom Rest der Ukraine entfremdete Region. Lange gehörte sie zum Habsburgerreich und wurde erst 1946 ukrainisch, zunächst als Teil der Sowjetunion, nach deren Zerfall dann in der unabhängigen Ukraine.

Die Klinik glich einem Museum

„Es herrschte eine unvorstellbare Armut“, erinnert sich die inzwischen pensionierte Allgemeinmedizinerin Scheufler an ihren ersten Besuch 1996 in Mukatschewo. Sie erzählt von defekten Rettungswagen, zeigt Fotos von leeren Arzneischränken, verdreckten Entbindungsbetten und „museumsreifem“ medizinischem Gerät. Scheufler war klar, dass sich die erschreckende Versorgungssituation vor Ort verbessern musste – insbesondere für Frauen. „Damals mussten Schwangere acht Monate auf einen Vorsorgetermin in einer staatlichen Klinik warten“, sagt Scheufler.

Dreh- und Angelpunkt des Engagements in der Region ist das Christian Medical Center (MC), dessen Geschichte 1999 mit dem Erwerb des alten Gemeindehauses Mukatschewos seinen Anfang fand. Das Gebäude war 50 Jahre zuvor enteignet worden, doch konnte es mit Hilfe des evangelischen Gustav-Adolf-Werks (GAW) durch die evangelische Gemeinde vor Ort zurückgekauft werden. Seit 2005 stand die Medizinhilfe unter der Trägerschaft der Diaspora-Stiftung des GAW. In den folgenden Jahren baute man das MC durch Sachspenden immer weiter auf. So ließ 2004 ein Erweiterungsbau die Fläche von 150 auf knapp 500 Quadratmeter anwachsen. Ab 2006 fand sich im MC der für lange Zeit einzige Computertomographie-Scanner (CT) der Region.

Seit ihrer Gründung verzeichnete die Poliklinik rund 1,8 Millionen Arzt-­Patienten-Kontakte und ist zur medizinischen Anlaufstelle für Menschen im Umkreis von 200 Kilometern geworden. Die Klinik, die formal ein Unternehmen ist, behandelt auch Menschen mit geringem Einkommen. „Wir schaffen es, Leistungen auf westlichem Niveau zu östlichen Preisen anzubieten“, sagt Scheufler stolz. Eine Magenspiegelung kostet umgerechnet etwa zwölf Euro, eine gynäkologische Untersuchung sieben Euro. Rund ein Drittel der Behandlungen erfolgt sogar kostenlos. Insgesamt arbeiten im MC rund 80 Leute in 19 Fachbereichen – von der Reinigungskraft bis zum Chefarzt. „Über die Jahre entstanden tiefe Freundschaften“, erzählt der Facharzt für Mikrobiologie Weindel.

Feuchttücher und Wasserentkeimungstabletten für Cherson

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine verzehnfachte sich die Arbeit von Scheufler und ihrem Team aus rund 50 Aktiven aus dem Rhein-Main-Gebiet. Sie weiteten ihre Lieferungen aufs gesamte Staatsgebiet aus und belieferten in den vergangenen zwei Jahren so 18 ukrainische Städte. Als im Sommer 2023 der Damm Kachowka im Süden der Ukraine zehntausende Hektar in eine Brachlandschaft verwandelte, erreichte sie ein Hilfeschrei aus dem überfluteten Cherson. Innerhalb von zwei Wochen organisierte man eine Lieferung von Hygieneartikeln und Tabletten zur Wasserentkeimung, da in den überfluteten Gebieten Frischwassermangel herrschte. Seit Kriegsbeginn verließen bisher insgesamt 25 Sattelschlepper das Rhein-Main-Gebiet gen Osten. „Das ist auch für uns ein Weg, unsere Wut und unser Ohnmachtsgefühl in Aktivismus umzuwandeln“, sagt Weindel.

Die Gründerin der Initiative, Martina Scheufler (Mitte), und ihr Stellvertreter Martin Weindel nehmen den Deutschen Engagementpreis entgegen.

Dabei ist jeder Transport aufs Neue eine organisatorische Herausforderung. Nicht zuletzt, weil die Ukraine im Kampf gegen Korruption immer schärfere Regeln für die Einfuhr von Gütern verhängt. Beweisfotos per Messenger sowie Besuche garantieren, dass die gespendeten Güter bei ihren angedachten Empfängern ankommen. „Man ist manchmal schon vom eigenen Mut überrascht“, gibt Scheufler zu. Was sie vor Ort immer wieder beeindruckt, ist, wie verantwortungsbewusst die Ukrainer mit den Spenden umgehen. So erzählt sie, dass sie anbot, sich um einen Ersatz für ein inzwischen in die Jahre gekommenes Röntgengerät im MC zu bemühen. Doch das Team lehnte dankend ab, mit der Begründung, dass das über 50 Jahre alte Gerät weiterhin verlässlich funktioniere. Stattdessen sucht man derzeit händeringend nach einem Ersatz für den 2006 gespendeten CT-Scanner, sagt Scheufler.

Jeder Euro fließt in die Hilfe

Nach zehn Jahren unter der Trägerschaft der Diaspora-Stiftung löste sich die Stiftung von ihrem regionalen Charakter, zog nach Leipzig und übernahm das Kapital der Deutschen Luther-Stiftung e.V. aus Berlin, als dieser Zentralverein aufgelöst wurde. „Dadurch war unsere Trägerschaft aber nicht mehr mit dem Stiftungszweck vereinbar“, erklärt Scheufler. Ein neues rechtliches Zuhause fand man „Gott sei Dank“ schnell bei der evangelischen Stadtkirchengemeinde Hanau. Das Kirchenkreisamt Hanau übernimmt auch die finanzielle Buchhaltung – pro bono, versteht sich. „Wir arbeiten hier alle kostenfrei“, betont Scheufler. So könne jeder gespendete Euro direkt in die medizinische Hilfe fließen. Interesse, die Initiative in einen Verein umzuwandeln, besteht unterdessen nicht. „Als Verein aufzutreten, würde für uns zu viel bürokratischen Mehraufwand bedeuten“, sagt Weindel. Die Form der Initiative hingegen biete das benötigte Maß an Flexibilität. „Die evangelische Stadtkirchengemeinde Hanau managt unsere Finanzen, und das Finanzamt prüft die Gemeinde“, bricht Scheufler die einfache Strukturierung hinunter.

Geld kommt von einem großen Spenderkreis, anfangs aus dem privaten Umfeld der Aktiven, mittlerweile aus ganz Deutschland und Luxemburg, Zonta- und anderen Service-Clubs aus ganz Deutschland sowie vereinzelt auch von Kirchengemeinden. Weitere Unterstützung in Form von Sachspenden und Dienstleistungen erhält die Initiative durch ihr über die Jahre gewachsenes Netzwerk. So stellt ein in Hanau ansässiger Spediteur den Transport zum Eigenpreis. Der 26. Lkw seit Kriegsbeginn soll alsbald Richtung Ukraine aufbrechen – beladen unter anderem mit dem gesamten Inventar einer gespendeten Zahnarztpraxis. Irgendwann, wenn der Krieg vorbei ist, wünschen sich Scheufler und Weindel, eine Reise durch die gesamte Ukraine anzutreten. „Dann besuchen wir jeden, den wir bisher beliefert haben“, sagt die Gründerin. Dann hoffentlich auch jenseits der Karpaten.

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