Nachlass - DIE STIFTUNG https://www.die-stiftung.de/nachlass/ Magazin für das Stiftungswesen und Philanthropie Fri, 06 Jan 2023 13:49:58 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.5.5 Stiftung statt Steuer? https://www.die-stiftung.de/stiftungsvermoegen/stiftung-statt-steuer-95419/ Tue, 24 May 2022 10:18:49 +0000 https://www.die-stiftung.de/?p=95419

Stiftungen stehen mitunter in dem zweifelhaften Ruf, der Steuervermeidung zu dienen. Aber ist dieser Ruf gerechtfertigt? Und wie unterscheidet sich das Gestaltungspotential von gemein- und privatnützigen Stiftungen?

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Stiftungen stehen mitunter in dem zweifelhaften Ruf, der Steuervermeidung zu dienen. Aber ist dieser Ruf gerechtfertigt? Und wie unterscheidet sich das Gestaltungspotential von gemein- und privatnützigen Stiftungen?

Häufig sind Stiftungen mit dem Vorwurf kon­frontiert, bloße Vehikel zur Steuervermei­dung zu sein – oder diese zu kaschieren. Ist es aber überhaupt möglich, durch eine Stiftungs­konstruktion auf das eigene Vermögen weniger Steuern zu zahlen?

Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, zwischen gemein- und privatnützig zu unterschei­den. Laut dem Bundesverband deutscher Stiftun­gen sind 92 Prozent der rechtsfähigen Stiftungen ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet. Die verbleibenden acht Prozent sind privatnützige Stif­tungen, also Stiftungen, die nicht der Allgemeinheit, sondern dem Interesse eines geschlossenen Perso­nenkreises, meist einer Familie, dienen. Steuerbe­günstigt sind alleine die gemeinnützigen Stiftungen.

Nur scheinbar gemeinnützig?

Für gemeinnützige Stiftungen sieht das Stiftungs­recht einen Steuererlass unter Auflagen vor: Die Stiftungen sind steuerbefreit, dafür wachen Finanz­amt und Stiftungsaufsicht darüber, dass das Grund­stockkapital erhalten bleibt und die Erträge aus­schließlich den in der Satzung genannten gemein­nützigen Zwecken zugutekommen.

Trotz der hehren gemeinnützigen Zwecke gibt es immer wieder Versuche, gemeinnützige Stiftun­gen zur Steuervermeidung einzusetzen und somit zum persönlichen Vorteil zu nutzen. So zum Bei­spiel in einem Fall aus dem Jahr 2021, in dem ein Ehepaar einer selbst errichteten Stiftung Gemälde übertrug und diese einkommensmindernd geltend machen wollte. Der Bundesfinanzhof entschied je­doch, dass die Stiftung dem Ehepaar zu nahe stehe und ein Spendenabzug somit nicht möglich sei. Ju­risten sprechen in so einem Fall von einer verdeck­ten Gewinnausschüttung.

In einem anderen Fall hat eine Testamentsvoll­streckerin und Vorständin eine Stiftung regelrecht geplündert, indem sie für fragliche Zwecke der Stif­tungskasse Gelder entnahm, die sie als gemeinnüt­zig deklarieren wollte (siehe DIE STIFTUNG 4/2020). Außerdem stellte die Vorständin dem Stiftungsvor­stand – sich selbst und weiteren Familienmitglie­dern – ihre privaten Räume gegen eine Mietgebühr zur Verfügung. Aber auch in diesem Fall reagierten die Stiftungsbehörden: Die Stiftungsaufsicht be­stellte einen Notvorstand, der die in Rechnung ge­stellten Beträge zurückforderte.

Eine weitere unlautere Möglichkeit, an das Geld ge­meinnütziger Organisationen zu kommen, besteht in der Zahlung hoher Gehälter. So könnte ein Stifter sich zum einzigen Vorstand einer gemeinnützigen Stiftung bestellen und sich selbst über hohe Gehäl­ter die Stiftungserträge auszahlen. Aber auch hier schiebt der Bundesfinanzhof einen Riegel vor: Ein angemessenes Gehalt darf Gehälter von ähnlich verantwortungsvollen Posten in vergleichbaren Un­ternehmen, aus dem Non-Profit- oder aus dem For-Profit-Bereich, nicht wesentlich übersteigen.

„Auch wenn solche Fälle regelmäßig vorkommen, heißt das nicht, dass die gemeinnützigen Stiftungen Steuersparvehikel sind“, sagt Birgit Weitemeyer, Professorin für Steuerrecht an der Bucerius Law School. „Erstens ginge das auch mit einer GmbH – man kann praktisch mit allem im Steuerrecht ge­stalten. Und zweitens: Wenn das passiert, fällt es der Stiftungsaufsicht und/oder der Finanzverwal­tung früher oder später auf und der Bundesfinanz­hof unterbindet es.“

Das unbekannte Drittel

Vermutlich weniger bekannt ist, dass eine gemein­nützige Stiftung bis zu einem Drittel ihrer Erträge an den Stifter oder seine Kinder ausschütten darf. Paragraph 58 Absatz 6 der Abgabenordnung be­stimmt, dass Stiftungserträge genutzt werden dür­fen, „um in angemessener Weise den Stifter und sei­ne nächsten Angehörigen zu unterhalten, ihre Grä­ber zu pflegen und ihr Andenken zu ehren“. Als Vo­raussetzung hierfür gilt allerdings, dass dies in der Stiftungssatzung ausdrücklich erlaubt ist. Besteht folglich die Gefahr, dass Stifter steuerbefreit Gelder an ihre Stiftungen übertragen, die sie dann peu à peu an an sich selbst oder ihre Kinder auszahlen?

„Man kann praktisch mit allem im Steuerrecht gestalten.“
Prof. Birgit Weitemeyer, Bucerius Law School

Wohl kaum: Zum einen findet sich in wenigen Stiftungssatzungen ein entsprechender Passus. Zum anderen ist die Auslegung der Formulierung „in angemessener Weise“ relativ strikt: Nach einhel­liger Expertenmeinung darf eine solche Unterstüt­zung nur dazu dienen, den notwendigen Lebensun­terhalt für die Stifterfamilie sicherzustellen – es geht also um eine Absicherung, die Verarmungsfäl­len vorbeugt und etwa die Ausbildung von Famili­enmitgliedern finanziell absichern kann.

Ähnlich restriktiv wird der Nießbrauch, ein Nut­zungsrecht etwa an einer Immobilie, geregelt. Auch dieser bezieht sich nur auf den angemessenen Un­terhalt und erlaubt keine Auslegung, die es etwa er­laubt, Luxusvillen und Yachten steuerfrei zu über­tragen. In der Praxis kämen kaum Fälle vor, in de­nen mit Nießbrauch oder dem Drittel an den Stif­tungserträgen Missbrauch betrieben werde, sagt Weitemeyer.

In der Praxis sei es häufiger, dass Stifter das Ver­mögen, das ihren Erben zukommen soll, von dem Vermögen trennen, das philanthropisch eingesetzt werden soll: Dafür können die Stifter entweder nur einen Teil ihres Vermögens in die gemeinnützige Stiftung einbringen, und der Rest bleibt im Privat­vermögen, oder sie gründen zwei Stiftungen: eine gemein- und eine privatnützige. Wie aber verhält es sich mit den privatnützigen Stiftungen – sind diese zum Gestalten von Steuern, wie Steuerprofis gerne formulieren, geeignet?

Zwischen privat- und gemeinnützig

Privatnützige Stiftungen dienen dazu, einem be­grenzten Kreis von Personen Förderung zukommen zu lassen. Sind die Begünstigten Verwandte, wie Kinder oder Enkel, spricht man von einer Famili­enstiftung. Familienstiftungen finden sich häufig im Umfeld vermögender Privatpersonen und von Un­ternehmen. Denn um die Nachfolge und Besitzver­hältnisse in Unternehmen für die nachfolgenden Generationen zu regeln, sind Stiftungen ein geeigne­tes Vehikel. Wie sieht es aber mit der steuerlichen Gestaltungsfähigkeit bei Familienstiftungen aus?

„Stiftungen können legale Regeln zur Vermögensgestaltung nutzen.“
Boris Piekarek, Kanzlei Winheller

Zunächst einmal gelten für eine Stiftung diesel­ben steuerlichen Spielregeln wie für andere Körper­schaften auch. Ihr Einkommen besteuert der Fiskus mit 15 Prozent Körperschaftssteuer, Solidaritätszu­schlag und gegebenenfalls Gewerbesteuer. Bei Aus­schüttungen fallen 25 Prozent Abgeltungssteuer an. Gleichwohl werben Steuerberater und Rechtsan­wälte damit, für ihre Mandanten durch Stiftungs­konstruktionen günstige Steuersätze herausholen zu können. Wie passt das zusammen?

„Stiftungen können wie alle Steuerpflichtigen le­gale Regeln zur günstigen Vermögensgestaltung nutzen. Dies bietet die Chance zum Vermö­gensaufbau, der bei Stiftungen in gewissem Umfang auch gewollt ist“, sagt Rechtsanwalt Boris Piekarek von der Kanzlei Winheller.

Steuerliche Vorteile gegenüber dem Privatver­mögen bringt die Familienstiftung insbesondere in der laufenden Besteuerung mit sich. So zahlt eine Stiftung nur etwa 15,8 Prozent Körperschaftssteuer inklusive Solidaritätszuschlag auf Kapitalerträge, Mieteinnahmen und andere Einkünfte, sofern keine Gewerbesteuer anfällt. Im Privatbesitz des Stifters wären die Mieteinnahmen hingegen weiterhin mit dem individuellen Einkommensteuersatz, also mit bis zu 47,475 Prozent zu besteuern. Schüttet die Stiftung Gelder aus, addieren sich die bereits ge­zahlten Steuern und die Abgeltungssteuer zu einem Steuersatz von rund 36,9 Prozent auf.

Dadurch, dass die Abgeltungssteuer aber erst mit der Ausschüttung fällig wird, kann die Stiftung als große Familiensparbüchse funktionieren, in der langfristig, etwa für die Versorgung zukünftiger Ge­nerationen, Vermögen erhalten und in gewissem Maße aufgebaut werden kann. Zusätzlich sind die auf die Stiftung übertragenen Vermögenwerte si­cher aufgehoben, da Haftungsansprüche oder an­dere Forderungen in den meisten Fällen nicht auf das Stiftungsvermögen zugreifen können, man spricht in diesem Zusammenhang auch von Asset-Protection.

Alle 30 Jahre fällig

Eine weitere Steuer, die vor allem Familienunter­nehmer und wohlhabende Personen beschäftigt, ist die Erbschaftssteuer. Erbschafts- beziehungsweise Schenkungssteuer fällt bei der Familienstiftung zu dem Zeitpunkt an, zu dem die Stiftung errichtet wird. Auch hier gibt es zwar geringe Freibeträge, aber vor allem gibt es bei unternehmerischem Pro­duktivvermögen, bei großen wohnwirtschaftlich re­levanten Immobilienunternehmen und bei land- und forstwirtschaftlichem Vermögen eine vollstän­dige oder teilweise Steuerbefreiung, sofern Halte­fristen eingehalten und Arbeitsplätze nur sehr be­grenzt reduziert werden.

„Man nennt das gemischte Stiftung. Das ist ein Trick, den man gefunden hat.“
Birgit Weitemeyer

Da die Familienstiftung eine unsterbliche juristi­sche Person ist, hat der Gesetzgeber sie aus Gleich­heitsgründen der sogenannten Erbersatzsteuer un­terworfen. Die Erbersatzsteuer simuliert alle 30 Jahre einen Erbfall – nach Ablauf dieser Zeit muss die Stiftung also auf ihr Vermögen Erbschaftssteuer zahlen. Gestaltungsspielraum besteht hier freilich auch: Da das Nettovermögen als Berechnungs­grundlage dient, können von dem besteuerten Ver­mögen Verbindlichkeiten abgezogen werden. Au­ßerdem gewährt der Gesetzgeber zwei fiktive Kin­derfreibeträge in Höhe von insgesamt 800.000 Euro. Dieser Freibetrag gilt unabhängig davon, ob der Stifter tatsächlich Kinder hat und ob diese bei Erb­schaften bereits Freibeträge steuermindernd ange­setzt haben. Bei Familienvermögen im Bereich meh­rerer Millionen Euro fallen diese Freibeträge aller­dings weniger stark ins Gewicht. Außerdem gelten ebenfalls die oben erwähnten Steuerbefreiungen für unternehmerisches Produktivvermögen, für große, als „wohnwirtschaftlich relevant“ erachtete Immobilienunternehmen und für land- und forst­wirtschaftliches Vermögen.

Insgesamt lässt sich durch Vergünstigungen, Freibeträge und andere Kniffe bei der Gestaltung der Erbschaftssteuer die Familienstiftung steuer­mindernd nutzen, die mit einer gewissen Laufzeit auch die Kosten der Stiftungserrichtung amortisie­ren. Dass die privatnützige Stiftung deswegen ein Steuervermeidungsvehikel ist, will Piekarek aber nicht gelten lassen: „Wer nur platt Steuern sparen will, für den ist die Stiftung nicht geeignet; sie ist kein Steuersparmodell. Wer aber seine ertragbrin­genden Vermögenswerte neu strukturieren möchte und dabei auch auf steuerliche Optimierung schaut, für den kann die privatnützige Familienstiftung das Mittel der Wahl sein.“

Missbräuchliche Nutzung

Birgit Weitemeyer sieht das kritischer: Es gebe zwei Wege, wie Familienstiftungen missbräuchlich dazu genutzt würden, die Erbersatzsteuer zu vermeiden. Zum einen sei die Voraussetzung für die Erbersatz­steuer, dass die Stiftung überwiegend einer Familie diene. Ist eine Stiftung aber mit mindestens 51 Pro­zent ihrer Erträge gemeinwohlorientiert tätig, so fällt die Erbersatzsteuer nicht an. „Man nennt das eine gemischte Stiftung“, sagt Weitemeyer. „Das ist ein Trick, den man gefunden hat.“

„Eine solche Konstruktion zu verbieten, hat man einfach verpennt.“
Birgit Weitemeyer

Des Weiteren lasse Paragraph 28a des Erbschafts­steuergesetzes zu, die Familienstiftung zur Steuer­vermeidung zu nutzen. Demnach entfällt die Erb­schaftssteuer, wenn der Erbe außer dem Familien­unternehmen, das er erbt, kein sogenanntes freies Vermögen hat – weil dieser sonst das Unternehmen liquidieren müsste. „Jetzt werden munter Famili­enstiftungen gegründet, auf die Teile der Firma ver­teilt werden, die dann über kein freies Vermögen verfügen“, sagt Weitemeyer. In Expertenkreisen sei man sich einig, dass diese Praxis unterbunden wer­den müsse. „Das dauert eine Weile, bis das durchsi­ckert in die Politik. Aber in Fachkreisen ist das be­kannt und wird kritisiert.“

„Neofeudalistische Strukturen“

Darüber hinaus äußert Weitemeyer scharfe grund­legende Kritik an der Familienstiftung als Instituti­on: „Familienstiftungen dürfen unbegrenzt Gelder an die Erben ausschütten, ähnlich wie bei einem Fa­milienfideikommiss.“ Ein Familienfideikommiss war im preußischen Recht ein Vermögen, das – meist in den Händen Adliger – nicht verkauft, nicht verpfän­det und von Gläubigern nicht behelligt werden konnte. Ein Vermögen also, das auch bei Insolvenz von Familienmitgliedern nicht angetastet werden durfte und weiterhin Erträge einbrachte. Die mo­derne Familienstiftung widerspreche der Abschaf­fung des Fideikommisses aus dem Jahr 1919 per Weimarer Reichsverfassung. „Das sind neofeudalis­tische Strukturen“, sagt Weitemeyer. „Sie entspre­chen nicht unserem freiheitlichen Gesellschaftsmodell: Eine solche Konstruktion zu verbieten, hat man in Deutschland einfach verpennt.“

Bisher falle dies noch nicht stark ins Gewicht, weil die Anzahl an Familienstiftungen noch über­schaubar sei. Diese Zahl nehme aber zu. In fast al­len anderen europäischen Ländern sei diese Art von Stiftung verboten: „In Frankreich, Spanien, Itali­en: Da gibt es so etwas wie eine Familienstiftung nicht. In Dänemark oder auch der Schweiz, die häu­fig als Stiftungs-Eldorado gilt, darf eine Stiftung nur sehr beschränkt an die Familie ausschütten, etwa zur Förderung der Ausbildung der Kinder oder für einen angemessenen Lebensunterhalt.“ Lediglich in den angloamerikanischen Ländern finde sich das Vorbild für die Familienstiftung: der Trust. Dass der Gesetzgeber die Familienstiftung noch einmal abschaffen könnte, glaubt Weitemeyer hin­gegen nicht: „Die Diskussion würde ich gerne füh­ren, der Zug ist aber abgefahren. Das ließe sich po­litisch nicht durchsetzen. Es wird kaum möglich sein, das Rad zurückzudrehen.“

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Die Vertrauensarbeiter der Hanel-Senioren-Stiftung https://www.die-stiftung.de/stiftungen-im-portraet/die-vertrauensarbeiter-der-hanel-senioren-stiftung-94522/ Thu, 10 Mar 2022 13:43:59 +0000 https://www.die-stiftung.de/?p=94522 Im Sommer 2021 kaufte Anita Hanel einen Strandkorb für ihre Stiftung und stellte ihn in die Cuxhavener Bucht. Ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter holten einzelne Senio¬ren zu Hause ab und brachten sie zum Strandkorb, wo Hanel sie mit Kaffee und Kuchen empfing, sie „einfach plaudern und den Blick aufs Meer genießen“ ließ, wie sie berichtet.

Mit viel Hingabe und einem starken Netzwerk lindert das Team der Hanel-Senioren-Stiftung Armut und Einsamkeit von alten Menschen in Cuxhaven. Nicht von Anfang an lief es für die Gründerin Anita Hanel so rund wie heute.

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Im Sommer 2021 kaufte Anita Hanel einen Strandkorb für ihre Stiftung und stellte ihn in die Cuxhavener Bucht. Ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter holten einzelne Senio¬ren zu Hause ab und brachten sie zum Strandkorb, wo Hanel sie mit Kaffee und Kuchen empfing, sie „einfach plaudern und den Blick aufs Meer genießen“ ließ, wie sie berichtet.

Mit viel Hingabe und einem starken Netzwerk lindert das Team der Hanel-Senioren-Stiftung Armut und Einsamkeit von alten Menschen in Cuxhaven. Nicht von Anfang an lief es für die Gründerin Anita Hanel so rund wie heute.

Von München ans Meer, vom Kreuzfahrtschiff in die Wohnzimmer von Senioren: So könnte man die Entwicklung von Anita Hanel zusammenfassen, die sie innerhalb der vergangenen zehn Jahre vollzogen hat. 2017 gründete die damals 60-Jährige eine Stiftung zur Linderung von Altersarmut und Einsamkeit. Als Stiftungssitz wählte sie Cuxhaven – und erfüllte sich damit den Traum, einmal am Meer zu leben.

Beruflich war Hanel lange Sportlehrerin gewesen, nach einigen Jahren aber ins Sportamt der Stadt München befördert worden. Die Verwaltungsarbeit frustrierte sie, sie vermisste den lebendigen Kontakt mit Menschen, dass jeder Tag anders ist als der vorige. Kurzentschlossen heuerte sie als Ausflugsleiterin bei einer Kreuzfahrtgesellschaft an. Dort kam sie ins Gespräch mit Senioren, entwickelte ein Gespür für die Altersgruppe der über 70-Jährigen. „Diese Generation war immer auf sich gestellt und hat nie Hilfe in Anspruch genommen. Mir wurde bewusst, dass sie aber trotzdem häufig Hilfe bräuchten und diese ihnen rechtlich auch zusteht.“

Sachspenden für die Würde

Selten reichen bedürftige Senioren selbst Unterstützungsanträge bei der Hanel-Senioren-Stiftung ein. Meist sind es deren Kinder oder Nachbarn. Foto: Hanel-Senioren-Stiftung

Um hilfsbedürftigen Senioren eine Brücke zu bauen, gründete sie nach dem Tod ihrer Eltern mit deren Nachlass die Hanel-Senioren-Stiftung. Drei Mitarbeiterinnen in Teilzeit hat sie mittlerweile eingestellt, 24 Ehrenamtliche komplettieren das Stiftungsteam. Ihr Auftrag: alten Leuten Gesprächspartner sein, ihnen zuhören, ihre Sorgen ernst nehmen, Bedürfnisse erkennen, akute und chronische Probleme lösen. Zuwendungen gibt die Stiftung ausschließlich als Sachspenden aus – sei es in Form von Lebensmittelpaketen, eines Gutscheins für den Friseur, eines Wintermantels oder von Hygieneprodukten. Auch Karten für einen gemeinsamen Theaterbesuch sind schon einmal darunter. „Es sind immer neue Waren – nichts Gebrauchtes, das ist mir wichtig“, betont Hanel. So wahre sie die Würde, die die Senioren verdienten.

Bargeld zu verteilen, lehnt sie aus mehreren Gründen ab. Zum einen seien es nicht nur finanzielle Gründe, die alte Leute von notwendigen Besorgungen abhielten: Häufig seien sie nicht mobil genug, um selbst in den Supermarkt zu fahren, oder würden sich nicht mehr auskennen, wo sie bestimmte Dinge kaufen könnten, die sie brauchen. Zum anderen gebe es auch in dieser Altersgruppe Suchtprobleme, vor allem in Form von Alkohol und Nikotin. „Mit einem Lebensmittelpaket, das wir jemandem nach Hause bringen, ersparen wir der Person den Weg, den Einkaufszettel und schenken ihr außerdem eine nette Unterhaltung“, fasst Hanel die Idee zusammen.

Nicht ins Wohnzimmer – wegen der Corona-Beschränkungen

Wegen der Corona-Bestimmungen dürften sie und ihr Team aktuell die Wohnungen der Menschen nicht betreten, bedauert Hanel. Früher hätten sie sich gemütlich im Wohnzimmer unterhalten können. Aber auch vor der Wohnungstür kämen einsame Senioren schnell in Quatschlaune. „Ich nenne das ‚Tratsch im Treppenhaus‘“, sagt sie lachend. „Und der dauert gern mal zwei Stunden.“

Meist öffnen sich die alten Leute erst nach mehreren dieser Treffen mit ihren wahren Problemen, erzählen in Nebensätzen, dass sie aktuell nicht spazieren gehen, weil sie keine Winterschuhe haben, oder dass sie dieses eine Formular nicht verstehen, mit dem sie Geldzahlungen beantragen könnten. Dann packt Hanel ihr Gegenüber ein, fährt mit ihm oder ihr zum Schuhgeschäft und kauft auf Stiftungskosten ein Paar Winterschuhe. Oder sie vereinbart einen Termin beim Sozialamt und geht mit dorthin („als emotionale Stütze“). Zupackend und lebensnah zu sein, das ist Hanels Anspruch an die Arbeit ihrer Stiftung.

„Wieso noch eine Seniorenstiftung?“

So rund wie heute lief die Seniorenhilfe nicht von Anfang an. Hanel war bei Stiftungsgründung neu in Cuxhaven, verfügte weder privat noch beruflich über ein Netzwerk, das sie hätte anzapfen können. Also ging sie das Telefonbuch durch, suchte alle sozialen Einrichtungen raus, die klangen, als hätten sie mit Senioren Kontakt, und vereinbarte persönliche Termine.

„Nicht überall stieß ich sofort auf Interesse, zumal als Zugezogene. Es wurde gefragt, wieso es meine Stiftung brauche, es gebe ja schon Angebote für Senioren.“ Dies waren meist soziale Einladungen zu Kaffee und Kuchen. „Ich aber wollte vor allem diejenigen Senioren erreichen, die nicht zu solchen Treffen kamen – sei es, weil sie mobilitätseingeschränkt sind, oder weil sie sich dort ihrer Armut schämen.“

„Der Tratsch im Treppenhaus dauert gern mal zwei Stunden.“

Anita Hanel, Stiftungsvorständin

Der Begriff „schämen“ fällt häufig im Gespräch mit Anita Hanel, es ist ein zentrales Gefühl, das sie in ihrer täglichen Stiftungsarbeit erlebt. „Senioren der Generation über 70 schalten lieber die Heizung und den Fernseher aus, als die gesetzliche Grundsicherung zu beantragen, wenn ihre Rente nicht ausreicht“, sagt sie. Kaum Empfänger ihrer Hilfsleistungen würden sich selbst als bedürftig bei der Hanel-Senioren-Stiftung melden. Meist riefen Nachbarn an, die mitbekommen haben, dass jemand einsam und bedürftig ist, entfernt lebende Verwandte oder die sozialen Dienste. Dann machen sich Hanel oder eine ihrer Mitarbeiterinnen auf dem Weg zu einem spontanen Besuch.

Hanel-Senioren-Stiftung mit großem Partnernetz

Über die Jahre haben Hanel und ihr Stiftungsteam einige Organisationen als Partner gewonnen, die sie bei ihrer Stiftungsarbeit unterstützen. So füllt die gemeinnützige Organisation „Die Formularfüchse“ mit den Senioren gemeinsam ihre Anträge für die Ämter aus, die Cuxhavener Tafel leitet Lebensmittel weiter, der örtliche Drogeriemarkt spendet Hygieneprodukte, und ein lokaler Optiker hält immer Termine frei für Hanel, wenn sie wieder einmal mit einem Senior vorbeikommt, dessen Brille kaputtgegangen ist.

In der Weihnachtszeit hat die Hanel-Senioren-Stiftung einen Wunschbaum in einem Cuxhavener Kaufhaus aufgestellt. Auf den daran hängenden Postkarten hatten bedürftige Senioren ihre Weihnachtswünsche notiert. Interessierte Spender konnten sich Karten vom Wunschbaum aussuchen, die gewünschten Geschenke besorgen und bei der Stiftung abgeben. Foto: Hanel-Senioren-Stiftung

Den Einkauf der Waren, die sie an die Senioren ausgibt, finanziert die Stiftung teils aus eigenen Mitteln. Das Stiftungskapital in Höhe von 50.000 Euro hat Hanel in ein Mehrfamilienhaus investiert, die Mieteinnahmen fließen in den Stiftungszweck. Zudem betreibt die Hanel-Stiftung aktives Fundraising. „Mittlerweile sind wir sehr bekannt hier in der Stadt“, freut die Stifterin sich. Manche Unternehmen und die örtliche Sparkasse lassen ihr jedes Jahr eine Weihnachtsspende zukommen, einige Sportvereine spenden den Erlös des Waffelverkaufs auf ihrem Sommerfest. Drei Jahre lang erhielt Hanel 135.000 Euro aus dem Topf der Deutschen Fernsehlotterie. Hinzu kommen viele Privatspender.

Dass sie ausschließlich Sachwerte an ihre Klienten ausgibt, schätzen viele dieser Spender, weiß Hanel aus Gesprächen. „Es fühlt sich weniger anonym an, man sieht als Spender, wo die Hilfe ankommt. Und alle verstehen, dass unsere besondere Aufgabe der vertrauensvolle, menschliche Kontakt ist.“

Lästige Formalien

Da sie selbst keine Kinder hat, wird auch Anita Hanels Erbe komplett in die Stiftung fließen, die sie als Stiftung bürgerlichen Rechts gegründet hat. Ein befreundeter Rechtsanwalt hatte ihr im Gründungsprozess diese Rechtsform empfohlen, die Gründe dafür weiß Hanel nicht mehr – mit Formellem beschäftigt sie sich nicht gern. In ihrem Stiftungsrat sitzen drei Freundinnen aus Münchner Zeiten: eine Steuerberaterin, eine Rechtsanwältin und eine Krankenschwester.

Zweimal im Jahr kommt das Gremium zusammen, früher persönlich, derzeit per Videoanruf. Ein konkretes Zuständigkeitsprofil für den Rat gibt es nicht. „Sie beraten mich. Ich berichte von unserer Arbeit in der Stiftung und sie geben Tipps oder haben noch eigene Ideen“, sagt Hanel.

Erwartet sie auch Tipps und Unterstützung aus der Politik? Anita Hanel überlegt lange. „Vielleicht kann die große Politik gar nichts gegen Einsamkeit und Armut im Alter tun“, sagt sie schließlich. Es gebe ja die Grundsicherung, die alte Leute beantragen können, deren Rente nicht ausreicht. Auch Wohngeld, Pflegegeld und andere Sozialleistungen sind für Rentner verfügbar. „Man muss die Menschen, die sie brauchen, aber zum Amt kriegen, ihr Vertrauen gewinnen und ihnen helfen, ihre Scham abzubauen. Diese menschliche Arbeit können nur lokale Organisationen leisten, keine Gesetzesschreiber in Berlin.“

Info

Armut und Einsamkeit im Alter
Laut einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Studie sind mehr als 22 Prozent der über 80-Jährigen in Deutschland von Armut betroffen. Bei Frauen liegt der Anteil um neun Prozentpunkte höher als bei Männern. Armut ist definiert als ein Einkommen von unter 1.167 Euro im Monat.
Auffällig ist auch die Differenzierung nach Bildungsgrad: Die Armutsquote unter den Niedriggebildeten ist mit 41,5 Prozent sehr viel höher als bei den Hochgebildeten dieser Altersgruppe mit 6,7 Prozent. Die Armutsquote der ab 80-Jährigen ist in Ostdeutschland niedriger als in Westdeutschland (18,2 Prozent gegenüber 23,7 Prozent).
Die Studie „Hohes Alter in Deutschland“ (D80+) führte das Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health (ceres) gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) durch. Die Daten basieren auf Angaben von mehr als 10.000 Personen im Alter ab 80 Jahren.

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Kosmetikhersteller Laverana in Stiftungshand https://www.die-stiftung.de/stiftungsgruendung/kosmetikhersteller-laverana-stiftung-92254/ Wed, 14 Jul 2021 11:28:12 +0000 https://www.die-stiftung.de/?p=92254 Laverana-Gründer Thomas Haase fördert unter anderem die Renaturierung von Waldgebieten.

Die Laverana GmbH & Co. KG ist zum Beginn des Jahres in die Thomas-Haase-Stiftung überführt worden. Thomas Haase will so sicherstellen, dass die Gründungsidee fortbestehen kann.

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Laverana-Gründer Thomas Haase fördert unter anderem die Renaturierung von Waldgebieten.

Die Laverana GmbH & Co. KG ist zum Beginn des Jahres in die Thomas-Haase-Stiftung überführt worden. Thomas Haase will so sicherstellen, dass die Gründungsidee fortbestehen kann.

Gründer und Geschäftsführer Thomas Haase hat den Kosmetikhersteller Laverana zum 1. Januar 2021 in die Thomas-Haase-Stiftung überführt. Mit der Gründung der Stiftung möchte Haase den „nachhaltigen Gründergedanken“ in die Zukunft tragen, so das Unternehmen in einer Pressemitteilung. Vor allem solle so die Zukunft der Mitarbeiter, Handelspartner und Verbraucher gesichert werden. „Ich bin der festen Überzeugung, dass Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung insbesondere für unsere zukünftigen Generationen Leitgedanken eines jeden Unternehmens sein sollten“, wird Haase zitiert.

Thomas-Haase-Stiftung – nachhaltiger Ansatz

Sein Engagement in puncto Nachhaltigkeit beschreibt das Unternehmen unter anderem durch die Verwendung eines möglichst geringen Verpackungsanteils und eines höchstmöglichen Anteil aus recycelten Materialien. Laverana setze sich seit mehreren Jahren für Klimaschutzprojekte und Tierschutz ein. Dazu gehört zum Beispiel ein Aufforstungsprojekt in stark geschädigten Waldflächen in der Region um den Firmensitz Hannover sowie ein Trinkwasserprojekt in Kenia, bei dem durch die Bereitstellung von Wasserfiltern die Krankheitsraten sinken sollen. Seit 2020 seien Unternehmen und Marke klimaneutral. Die Stiftung solle diese Arbeit fortführen und weiterentwickeln.

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Alliance 2015 erhebt Auswirkungen von Corona-Krise https://www.die-stiftung.de/coronavirus/alliance-2015-erhebt-auswirkungen-von-corona-krise-91675/ Tue, 08 Jun 2021 08:44:21 +0000 https://www.die-stiftung.de/?p=91675 Die Mitarbeiter der Alliance 2015 befragten über 16.000 Menschen zu ihrer Situation in der Pandemie.

Eine Erhebung der Stiftung Welthungerhilfe und sieben ihrer Partnerorganisationen belegt in Zahlen, wie verheerend die Auswirkung der Corona-Krise auf den globalen Süden sind. Um die komplexen Probleme aufzufangen, erhalten Gemeinschaften Resilienz-Training.

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Die Mitarbeiter der Alliance 2015 befragten über 16.000 Menschen zu ihrer Situation in der Pandemie.

Eine Erhebung der Stiftung Welthungerhilfe und sieben ihrer Partnerorganisationen belegt in Zahlen, wie verheerend die Auswirkung der Corona-Krise auf den globalen Süden sind. Um die komplexen Probleme aufzufangen, erhalten Gemeinschaften Resilienz-Training.

Weltweit ächzen Staaten und Strukturen unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Besonders Menschen im globalen Süden sind stark betroffen. Dort ist die Einhaltung der grundlegenden Corona-Schutzmaßnahmen häufig nicht möglich. Vielerorts gibt es kein sauberes Wasser, Seife oder Desinfektionsmittel. Auf den Märkten und in Wohnvierteln können Menschen nicht den nötigen Abstand zueinander halten. Bei tropischen Temperaturen konsequent eine Maske zu tragen, ist eine höhere Belastung als in hiesigen Klimazonen.

Doch die Auswirkungen der Krise gehen weit über mangelhaften Infektionsschutz hinaus, wie die Welthungerhilfe gemeinsam mit sieben anderen international tätigen Hilfsorganisationen nun in einer groß angelegten Erhebung herausgefunden hat. Mehr als 16.000 Menschen in 25 Ländern beantworteten dafür Fragen zu täglichen Entbehrungen und Herausforderungen, die die Pandemie für sie verursacht hat. Ernüchterndes Fazit: Die Corona-Pandemie wirft den Entwicklungsstatus vieler Menschen um Jahrzehnte zurück.

Alliance-2015-Studie: Strukturelle Armutsursachen verstärkt

Die Befragung führten Mitarbeiter der Alliance 2015 (siehe Infokasten) von Mitte Oktober bis Mitte Dezember 2020 durch. Jede Organisation befragte mindestens 300 Menschen in den jeweiligen Zielländern ihrer Kampagnen und wertete sie zentral aus. Die Ergebnisse sind unter dem Titel „Covid-19 & Community Resilience“ veröffentlicht.

Besucher eines Marktes in Ouagadougou, Burkina Faso, befolgen die Maskenpflicht und desinfizieren ihre Hände. Foto: Helvetas/Franca Roiatti

In ihnen zeigt sich, wie sehr die Corona-Krise strukturelle Armutsursachen verstärkt. „Wer vorher schon wirtschaftliche Armut litt, hat seine Lebensgrundlage nun vollends verloren. Was sich die Menschen über Jahre mühsam aufgebaut haben, wurde zerstört“, fasst Bettina Ide zusammen. Als Referentin für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe ist die Politologin innerhalb der Welthungerhilfe zuständig für das Thema globale Corona-Pandemie.

Durchbrochene Transportketten, Infektionssorge und Schulschließungen

So gaben 72 Prozent der Landwirte in der Befragung an, auf Teilen ihrer Ernte sitzen geblieben zu sein, da überregionale oder internationale Transportketten durchbrochen sind. 91 Prozent der Arbeiter im informellen Sektor haben ihre Einkünfte teils vollständig verloren. Knapp 80 Prozent der Familien, die auf Überweisungen Angehöriger im Ausland angewiesen sind, erhalten deutlich weniger oder gar kein Geld mehr. Ein Drittel der Befragten hat aus Angst vor einer Ansteckung oder langen Wartezeiten Gesundheitszentren gemieden und Routineuntersuchungen nicht wahrgenommen. 70 Länder haben Impfprogramme pandemiebedingt ausgesetzt. Die Schulen von 90 Prozent der Familien mit Kindern im Alter zwischen vier und 16 waren vorübergehend geschlossen, Digital- oder Ersatzunterricht fand nur in seltenen Ausnahmefällen statt.

„Wie unter einem Brennglas verstärkt diese Krise Probleme, die wir schon seit Jahrzehnten bekämpfen“, sagt Francis Djomeda. Er leitet das Welthungerhilfe-Länderbüro im westafrikanischen Niger und hat mit seinen Mitarbeitern an den Umfragen mitgewirkt. Menschen in der von ihm betreuten Sahelzone hätten schon vor Corona Land, Ernten und Vieh an Dürren und andere Auswirkungen des Klimawandels verloren; während der Lockdown-Maßnahmen konnten sie ihre Felder teils gar nicht bestellen. „Konflikte um natürliche Ressourcen werden dadurch verschärft, die Menschen sind noch mehr der Unterdrückung durch Terrorgruppen ausgesetzt.“ Schon jetzt leben in den jeweiligen Grenzregionen zu Nigeria und Mali beziehungsweise Burkina Faso Zehntausende als Binnenflüchtlinge bei Gastfamilien und in Camps. Häufig grassieren dort Unterernährung und Seuchen.

Chance, der Armut nachhaltig zu entkommen, schrumpft laut Alliance 2015

Auch im Bereich Bildung sei vieles wieder zunichte gemacht worden, was die Entwicklungszusammenarbeit in den vergangenen Jahren erreicht habe, beklagt Ide. „Kinderverheiratungen und Teenageschwangerschaften beispielsweise sind in Entwicklungsländern seit Pandemiebeginn wieder stark angestiegen, da Mädchen die Schule als Schutzraum fehlte. Außerdem leiden durch den Wegfall der Schulspeisung wieder mehr Kinder unter Mangelernährung“, erklärt sie. Die Chance, der Armut nachhaltig zu entkommen, schrumpft. Perspektivlosigkeit greift um sich – Gift für die Selbstwirksamkeit, auf der die Entwicklungsarbeit fußt.

Die Studie zeigt aber auch: Informationskampagnen erreichen die Menschen. 87 Prozent der Befragten wussten etwa, dass regelmäßiges Händewaschen mit Seife das Infektionsrisiko für Corona senkt. Im Bild erhält eine Schülerin in der nigrischen Hauptstadt Niamey einen Preis dafür, ein Quiz zur Verbreitung und Eindämmung des Coronavirus bestanden zu haben. Foto: Welthungerhilfe

So wertvoll die durch die Erhebung generierten Daten einerseits sind, dem Anspruch einer wissenschaftlichen Studie genügen sie nicht, gibt Ide zu bedenken. Das sei auch nicht der Ansatz der durchführenden Organisationen gewesen: „Wir wollten eine Orientierung für unsere weitere Arbeit. Woran leiden die Menschen akut, was hängt wie zusammen? Das ist uns gelungen.“

Auf den Umfang der gesammelten Daten könne die Alliance 2015 stolz sein, findet die Expertin. Vor allem die Tatsache, dass die Hälfte der Befragten Frauen waren, sei beachtlich. Frauen sind in Entwicklungsländern noch seltener die Entscheider in Haushalten, Unternehmen und Gemeinden. Daher sind sie in wissenschaftlichen Studien generell weniger repräsentiert. Aufgrund dieser strukturellen Benachteiligung sind sie jedoch in höherem Maße von Armut bedroht als Männer. Auch das hat Corona nochmal verschärft.

Widerstandsfähigkeit der Gemeinden vor Ort stärken

„Um diese hochkomplexen Herausforderungen lösen zu können, reicht es nicht, nur das Infektionsrisiko etwa durch eine Impfung zu senken“, sagt Djomeda. „Wir müssen Menschen nachhaltig dazu befähigen, mit Krisen umzugehen.“ In aktuellen Projekten machen Djomeda und sein Team beispielsweise gemeinsam mit nigrischen Landwirten erodierte Böden wieder nutzbar. Dort bauen sie verbesserte Saatgutsorten an, die mit weniger Wasser auskommen und resistenter gegen Schädlinge sind. Außerdem statten sie die lokalen Farmer mit Agrargeräten aus.

Schon bei Gründung der Alliance 2015 definierten die acht Organisationen „Community Resilience“ als gemeinsame Vision, die Widerstandsfähigkeit der Gemeinschaften vor Ort. Das voranzutreiben sei jetzt wichtiger denn je, findet Djomeda. Denn die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass bevor die Auswirkungen der Pandemie vollständig aufgefangen werden konnten, dem globalen Süden die nächste Krise ins Haus stehe.

 

Info

Die Alliance 2015 ist eine strategische Partnerschaft von acht Nichtregierungsorganisationen aus acht europäischen Ländern, die im Jahr 2000 gegründet wurde. Die acht NGO arbeiten im gleichen thematischen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit (ländliche Entwicklung, Resilienz) und sind ähnlich gross. Daraus ergibt sich ein Austausch untereinander und durch den Hub für Advocacy in Brüssel eine Stimme für Lobbying in der EU.

Die Mitglieder der Alliance 2015 sind: Acted (Frankreich), Ayuda en Acción (Spanien), Cesvi (Italien), Concern Worldwide (Irland), Helvetas Swiss Intercooperation (Schweiz), Hivos (Niederlande), People in Need (Tschechische Republik) und Welthungerhilfe (Deutschland).
Die zitierte Studie steht zum Download zur Verfügung.

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Was geschah damals? https://www.die-stiftung.de/vermaechtnis/hertie-stiftung-was-geschah-damals-90838/ Wed, 24 Feb 2021 08:43:53 +0000 https://www.die-stiftung.de/?p=90838 Das Foto zeigt die Hertie-Betriebsfeier 1938 in der Berliner Deutschlandhalle.

Das Vermögen der Hertie-Stiftung geht auf den Hertie-Konzern zurück. Dieser war im Besitz der jüdischen Familie Tietz, bis diese unter den Nationalsozialisten aus dem Unternehmen gedrängt wurde. Wie genau sich die Enteignung abspielte, soll nun eine Studie klären. Reichlich spät, finden Studierende der Hertie School.

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Das Foto zeigt die Hertie-Betriebsfeier 1938 in der Berliner Deutschlandhalle.

Das Vermögen der Hertie-Stiftung geht auf den Hertie-Konzern zurück. Dieser war im Besitz der jüdischen Familie Tietz, bis diese unter den Nationalsozialisten aus dem Unternehmen gedrängt wurde. Wie genau sich die Enteignung abspielte, soll nun eine Studie klären. Reichlich spät, finden Studierende der Hertie School.

Zwischen den beiden Konfliktlinien im Streit um die Geschichte der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung liegen fast 90 Jahre. Im ersten Konflikt geht es um ein Milliardenvermögen und eine mögliche Mitschuld an der Enteig­nung jüdischer Familien. Es geht um die Frage, wie der Unternehmer Georg Karg zur Zeit des Nationalsozialismus in den Besitz der Kaufhauskette der Familie Tietz kam. War Karg – bis 1933 ein Ange­stellter des Hertie-Konzerns – an der so­genannten Arisierung des Unterneh­mens beteiligt, und wenn ja, in welchem Ausmaß? Dieses Kapitel der Geschichte des Kaufhausimperiums liegt bis dato noch größtenteils im Dunkeln – auch weil die Quellenlage als dürftig gilt.

Ein zweiter Konflikt hat sich in den letzten zwei Jahren zwischen der Stif­tung und einem Zusammenschluss aus Studierenden und Alumni der durch die Stiftung finanzierten Hochschule Hertie School of Governance entzündet. Dieser nennt sich Her.Tietz-Initiative und pocht auf eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Er wirft der Stiftung vor, sich nicht ausreichend mit der Ge­schichte der Kaufhäuser, der Entste­hung ihres Vermögens und der Enteig­nung der Familie Tietz auseinanderge­setzt und die Initiative zuletzt, wie ver­schiedene Tageszeitungen zitieren, „ab­gewimmelt und hingehalten“ zu haben.

Kein Zweifel an „Arisierung“

Im Herbst 2020 eskaliert der Streit: Die Initiative wendet sich an die Süd­deutsche Zeitung, die im Oktober über die Diskussion berichtet. Es folgen Mel­dungen in fast allen größeren Tageszei­tungen. Kurz darauf, Anfang November 2020, erklärt die Stiftung, dass sie eine unabhängige Organisation mit der Un­tersuchung der Geschichte der Waren­hauskette beauftragt habe. Die Presse­mitteilung enthält den Hinweis, dass der Beschluss bereits auf einer Vorstandssit­zung im März 2020 gefasst worden sei. Der Fokus der Untersuchung liege auf der Rolle Georg Kargs, der Übernahme des Hertie-Warenhauskonzerns im Nati­onalsozialismus und dem nach dem Krieg erfolgten Restitutionsverfahren.

Hertie-Stiftung

Das Alsterhaus an der Hamburger Binnenalster wurde 1912 als eine Filiale des „Warenhauses Hermann Tietz“ eröffnet. Foto: Oxfordian Kissuth / wikimedia

„Es besteht kein ernstzunehmender Zweifel daran, dass es eine Arisierung gewesen ist, aber wie genau das passiert ist und ob sich jemand etwas hat zu­schulden kommen lassen, das muss wis­senschaftlich untersucht werden“, sagt John-Philip Hammersen, Geschäftsfüh­rer der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. „Das ist jetzt der Auftrag an die For­scher: Transparenz zu schaffen und dar­zulegen, wo die Wurzeln des heutigen Vermögens der Hertie-Stiftung liegen.“

Die Her.Tietz-Initiative begrüßt die Untersuchung, kann sich aber keinen Reim darauf bilden, warum die Hertie-Stiftung erst jetzt mit der Aufarbeitung beginnt. Schließlich, so der Gründer der Initiative Alexander Busold im SWR2-In­terview, habe die Initiative schon seit über zwei Jahren eine Untersuchung ge­fordert. Außerdem könne die Beschäfti­gung mit dem Thema nur positive Aus­wirkungen auf die Stiftung und die Her­tie School haben.

Auf der Website der Hertie-Stiftung fin­det sich ein längerer Text zur Historie der Warenhäuser. Laut SZ war dieser Text dort nur „schwer zugänglich“, aktu­ell ist er leicht auffindbar. Auch das war ein Kritikpunkt der Initiative: Dass nir­gends, weder auf den Websites noch vor Ort an den Gebäuden von Stiftung oder Hertie School Hinweise auf die ursprüng­liche jüdische Besitzerfamilie zu finden seien.

Aufstieg der Volkswarenhäuser

Die Geschichte des Konzerns liest sich wie ein Krimi über unternehmerischen Erfolg, die Zeit der prunkvollen Waren­häuser und das Unrecht, das die Natio­nalsozialisten ausgeübt haben. Der fol­gende historische Abriss ist, wo nicht anders angegeben, der Website der Hertie-Stiftung entnommen.

Den Grundstein für den späteren Hertie-Konzern legte Oscar Tietz, der mit 13 Jahren eine Lehre in dem Ge­mischtwarengeschäft seines Onkels Her­mann Tietz in Prenzlau antrat. Zehn Jah­re später, 1882, eröffnet er in Gera sein eigenes „Garn-, Knopf-, Posamentier-, Weiss- und Wollwaren-Geschäft“. Das Ka­pital dafür erhält er von seinem Onkel, dem zu Ehren er das Geschäft „Hermann Tietz“ nennt. Aus den Anfangsbuchsta­ben setzt sich später, lange nach dem Tod des Onkels, der Name von Konzern und Stiftung zusammen: Hertie.

Oscar Tietz’ Geschäft wird zum Er­folgsmodell, auch weil es in vielen Belan­gen seiner Zeit voraus ist: Die Ware ist Kollektion und wird nicht nach Wunsch in Auftrag gegeben, die Kunden müssen sofort bar zahlen und können nicht an­schreiben lassen; die Preise sind nicht verhandelbar. Außerdem kauft Tietz di­rekt bei Fabrikanten und umgeht den Großhandel. Dadurch ist das „Waren­haus Hermann Tietz“ konkurrenzlos günstig und bietet auch einkommens­schwächeren Kunden die Dinge des täg­lichen Bedarfs, von Möbeln über Spiel­zeug bis hin zu Lebensmitteln.

Das Unternehmen wächst rapide: Vor der Jahrhundertwende gibt es 15 Fi­lialen, etwa in Weimar, München, Straß­burg und Stuttgart. In Berlin öffnet 1900 die Prestigefiliale in der Leipziger Stra­ße, in Hamburg folgt 1912 das „Waren­haus Hermann Tietz“ am Jungfernstieg, seit 1935 als Alsterhaus bekannt. Der Wachstumskurs bricht auch mit Wirt­schaftskrisen und dem Ersten Weltkrieg nicht ab: 1917 steht die Firma kurz vor einem Umsatz von 100 Millionen Reichs­mark.

Stammbaum Karg Tietz

 

1923 kommt es zum Generationenwech­sel: Oscar Tietz stirbt, seine Söhne Georg und Martin sowie deren Schwager Hugo Zwillenberg leiten nun das Unterneh­men. Die drei neuen Geschäftsführer set­zen den Expansionskurs fort, zu einem erheblichen Teil finanziert durch Fremd­mittel. 1926, kurz vor der Weltwirt­schaftskrise, übernimmt der Konzern weitere Kaufhäuser des Berliner Unter­nehmens A. Jandorf & Co., darunter das Kaufhaus des Westens (KaDeWe).
Unter den Mitarbeitern, die über­nommen werden, ist auch der 38-jährige Georg Karg, dem später das Hertie-Impe­rium zufallen wird. Die Mitarbeiterzahl zu dieser Zeit wird unterschiedlich be­ziffert. Je nach Quelle werden 13.000 bis 18.000 Angestellte genannt.

Mit der Weltwirtschaftskrise bre­chen ab 1929 auch den Warenhäusern die Umsätze weg. Die Bilanzen des Un­ternehmens weisen drei Jahre in Folge Verluste aus. Anfang 1933 ist das Unter­nehmen mit 85 Millionen Reichsmark verschuldet.

Der hierauf folgende Zeitabschnitt soll in der 2020 durch die Hertie-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie genau un­tersucht werden: Welche Rolle kam Ge­org Karg bei der Enteignung der Familie Tietz zu? Welchen Einfluss übten die Banken, welchen Einfluss die nationalso­zialistische Politik aus?

NS-Politik contra Kaufhäuser

Berliner Kaufhaus mit Tietz-Globus

Hauptportal eines Berliner Kaufhauses mit Tietz-Globus. Foto: Autor unbekannt/wikimedia

Die Nationalsozialisten würden am liebs­ten die großen Kaufhäuser zerschlagen, da sie den kleineren Einzelhändlern Kon­kurrenz böten. Reichswirtschaftsminis­ter Kurt Schmitt argumentiert jedoch für einen Erhalt der Kaufhäuser, die als gro­ße Auftrag- und Arbeitgeber eine wichti­ge Rolle spielen.

Zeitgleich treiben die Nationalsozia­listen ihre Bemühungen voran, mög­lichst unauffällig jüdische Besitzer zu enteignen. Die als „Arisierung“ bezeich­neten Zwangsverkäufe werden oft durch Repressalien bewirkt, zugleich aber als ordnungsgemäßer Verkauf inszeniert; häufig wird den Besitzern ein viel zu ge­ringer Verkaufspreis gezahlt.

Da die Wirtschaft weiterhin nicht an­zieht, braucht der Konzern weitere Kre­dite. Ein Konsortium aus Gläubigerban­ken, darunter Dresdner Bank, Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft sowie das Bankhaus Hardy, bilden die „Hertie Kaufhaus Beteiligungs GmbH“, die einen Rettungskredit in Höhe von elf Millionen Reichsmark gewährt. Sie verlangen eine 60-prozentige Beteiligung an dem Kon­zern und damit faktisch die Entschei­dungsrechte. Außerdem wird Hugo Zwil­lenberg im Juli 1933 aus der Geschäfts­führung gedrängt, wenig später muss er seine Unternehmensanteile verkaufen. In dem Namen des Bankenkonsortiums wird der Name Hertie erstmals verwen­det. Es ist auch der Zeitpunkt, zu dem der spätere Konzernchef Georg Karg, be­stellt durch die Banken, erstmals die Lei­tung der Warenhäuser übernimmt.

Im Namen des Bankenkonsortiums verhandelt Karg mit der Familie Tietz. Auch die Brüder Tietz sollen durch poli­tischen Druck dazu gebracht werden, ihre verbleibenden Unternehmensantei­le abzugeben. Letztlich kommt es zu ei­nem Verkauf, da das Bankenkonsortium droht, andernfalls die gewährten Kredite aufzukündigen. Wie genau die Rolle Kargs in diesem Vorgehen aussieht, ist nicht bekannt. Das soll die nun in Auf­trag gegebene Untersuchung klären. Der Wikipedia-Beitrag über den Hertie-Konzern beziffert die an die Familie Tietz gezahlte Summe auf gerade einmal 1,5 Millionen Reichsmark. Die Familie Tietz wandert in die USA aus. Georg Karg ver­sucht, das Geschäft zu sanieren, und entlässt ein Drittel der Belegschaft. Im Zuge dieser Entlassungen kündigt Karg auch allen jüdischen Mitarbeitern.

Karg kauft Hertie

Wenige Jahre später bietet Georg Karg den Banken an, den verschuldeten Kon­zern zu kaufen. Diese veräußern ihm zu­nächst 50 Prozent der Unternehmensan­teile für – je nach Quelle – zweieinhalb bis vier Millionen Reichsmark, vier Jahre später die restlichen Anteile. Den An­kauf finanziere Karg je zur Hälfte aus ei­genen Mitteln und aus Krediten, steht auf der Website der Hertie-Stiftung.

Georg Karg mit Sohn Hans-Georg Karg

Georg Karg mit seinem Sohn Hans-Georg im Jahr 1967. Foto: Karg´sche Familienstiftung

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind 83 Prozent der Warenhäuser verloren – sie liegen in der sowjetischen Zone. Übrig bleiben sechs Häuser, jeweils unter­schiedlich zerstört, darunter das weitge­hend ausgebrannte KaDeWe in Berlin, das Hamburger „Alsterhaus“ sowie Häu­ser in München, Stuttgart und Karlsru­he. Die drei letztgenannten habe Karg 1949 an die Familie Tietz zurückgege­ben, die Anspruch auf Wiedergutma­chung gestellt habe – und sofort wieder von der Familie angemietet.

In „behelfsmäßigen Büros“ und den „nicht zerstörten Erdgeschossen“ der sechs Kaufhäuser habe Karg begonnen, den Warenhauskonzern wiederaufzu­bauen. Das Weitere ist eine Nachkriegs­wachstumsgeschichte: Von 1946 bis zu seinem Tod 1972 eröffnet Karg, den die Hertie-Website als fleißigen, „begnade­ten Kaufmann“ beschreibt, 42 neue Wa­renhäuser. Auch habe Karg Ende der 1950er Jahre die drei Häuser, die wieder der Familie Tietz gehörten, zum damals marktüblichen Preis zurückerworben.

1974 errichten Kargs Erben, Hans-Ge­org Karg und seine Schwester Brigitte Gräfin von Norman, die „Gemeinnützige Hertie-Stiftung zur Förderung von Wis­senschaft, Erziehung, Volks- und Berufs­bildung“, in die 97,5 Prozent der Ge­schäftsanteile der Hertie Waren- und Kaufhaus GmbH eingebracht werden. Doch die Geschäfte laufen schlechter, mit bekannten Folgen: 1993 verkauft die Gemeinnützige Hertie-Stiftung die Kauf­häuser an Karstadt.

Lücken, Fragen, Ungeklärtes

Diese Geschichte, im Zeitraffer durch über hundert Jahre, lässt zentrale Fra­gen unbeantwortet: Welche Rolle spielte Karg bei dem sogenannten Arisierungs­verfahren? War er rein verwaltend tätig, von dem Bankenkonsortium bestellt, und die Firma fiel ihm mehr oder minder zu? Andere Fragen werfen der Kauf des Konzerns durch Karg und das später er­folgte Restitutionsverfahren auf: Wie konnte Georg Karg die vielen Millionen Mark aufbringen, um den Konzern zu er­werben? Wurde das Restitutionsverfah­ren korrekt durchgeführt? „Die juristi­schen Fragen sind im Restitutionsver­fahren nach dem Krieg endgültig geklärt worden“, sagt Hammersen.

Der Historiker Johannes Bähr von der Goethe-Universität Frankfurt ist ei­ner der beiden Wissenschaftler, die für die durch die Hertie-Stiftung beauftragte „Gesellschaft für Unternehmensge­schichte“ (GUG) die Untersuchung vor­nehmen. Er gibt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk zu bedenken, dass die Geschädigten meist „nicht allzu viel Spielraum hatten. Das waren in der Regel ältere Menschen, die sich im Grun­de keinen langen Prozess leisten konn­ten, und diese Restitutionsprozesse in der Bundesrepublik – man weiß ja auch, wie die Justiz damals zusammengesetzt war –, die zogen sich dann oft über zehn oder zwölf Jahre hin.“

Geschäftsführer der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung

John-Philip Hammersen ist Geschäftsführer der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Foto: Gemeinnützige Hertie-Stiftung

Zu den möglichen Folgen der Unter­suchung für Hertie sagt Hammersen: „Es fällt mir schwer, eine Fantasie dafür zu entwickeln, wenn rauskäme, dass Georg Karg Schuld auf sich geladen hat.“ Da die Stiftung gemeinnützig ist und ohnehin ein wesentlicher Teil ihrer Förderung in den Bereich Demokratie stärken fließe, rechne er mit keinen größeren Einschnit­ten. Auch aus dem Umfeld der Nachfah­ren der Familie Tietz heißt es, die Fami­lie habe mit diesem Kapitel ihrer Famili­engeschichte endgültig abgeschlossen.

Die Hertie-Stiftung will mit der Unter­suchung die Frage nach der Konzernver­gangenheit und der Entstehung des Stif­tungsvermögens ein für alle Mal klären: „Wir haben größtes Interesse daran, dass das Ergebnis unangreifbar ist“, sagt Hammersen. Deswegen habe man die GUG beauftragt, die wiederum renom­mierte Wissenschaftler ausgewählt habe. Zudem würden alle Veröffentli­chungsrechte an die GUG abgetreten, so dass die Hertie-Stiftung die Studie finan­ziere, aber keinen Einfluss auf die Ergeb­nisse ausüben könne. Dennoch muss sich die Stiftung die Frage gefallen las­sen, warum es erst heute zu einer Unter­suchung kommt – zumal sie sich mit De­mokratieförderung befasst.

„Ein Mosaik mit Fehlstellen“

Und es gibt viele weitere kleinere Un­stimmigkeiten. Warum bedarf es des Drucks der Studierenden, damit die Website auf die Geschichte des Kon­zerns hinweist? Warum erwähnt der Text auf der Website nicht, dass es das Foto einer Betriebsfeier gibt, auf der Hertie-Angestellte den Hitlergruß zeigen (siehe Titelbild)? Auch der Begriff Resti­tutionsverfahren wird in dem Text nicht erwähnt, dabei gab es ein solches und es soll Gegenstand der in Auftrag gegebe­nen Studie sein. Zudem gab es eine au­ßergerichtliche Einigung, die lediglich in einem weiteren Text auf der Website, ohne nähere Angaben, erwähnt wird.

Weitere Verwirrung stiftet eine durch die Hertie-Stiftung in Auftrag gegebene Voruntersuchung aus dem Jahr 2000. Hammersen erklärt dazu: „Die Untersu­chung 2000 war keine Studie, sondern es gab den Auftrag an die GUG herauszufin­den, ob es genügend Quellen gibt, um ein Bild der Unternehmerpersönlichkeit Georg Karg zu zeichnen.“ Diese habe er­geben, dass für ein umfassendes Unter­nehmerporträt die Quellenlage nicht ausreiche. Dass der inhaltliche Schwer­punkt darauf lag, Georg Karg zu porträ­tieren, nicht aber die Herkunft des Fir­menvermögens zu klären, mag irritieren. Die Aussage, dass die Quellenlage zu dünn für eine wirkliche Untersuchung sei, prägt aber lange Zeit den Umgang der Stiftung mit der Vergangenheit. So steht auf der Website: „Viele Unterlagen und Akten sind in den Wirren des Zwei­ten Weltkrieges zerstört worden oder verloren gegangen. Zeitzeugen leben nicht mehr.“

Eine weitere Untersuchung zur Quel­lenlage gibt 2008 die gemeinnützige Karg-Stiftung in Auftrag. Diese wurde durch den kinderlosen Sohn Georg Kargs, Hans-Georg, und dessen Ehefrau errichtet, das Stiftungsvermögen liegt bei 134 Millionen Euro. Die Untersu­chung kommt zu einem ähnlichen Be­fund und erwarte in Bezug auf Georg Karg „höchstens ein Mosaik mit vielen Fehlstellen“. Diese Recherche – durchge­führt durch einen Juristen – wird später von der Karg-Stiftung selbst zurückge­wiesen und als „wissenschaftlich nicht ausreichend“ befunden, wie Hammersen erklärt. Beide Untersuchungen wurden nicht veröffentlicht, was auch die Her.Tietz-Initiative befremdet. Schließ­lich wirkt dies so, als habe man etwas herausgefunden, das geheim gehalten werden solle. Die Untersuchungen seien aber schlichtweg nicht zur Veröffentli­chung gedacht gewesen, wirft Hammer­sen ein. Er hege auch weiterhin Beden­ken gegen eine Veröffentlichung: Hobby­historiker könnten sich einzelne Quellen herauspicken und undifferenziert ausle­gen. Außerdem habe die Hertie-Stiftung der GUG freigestellt, ob sie die Untersu­chung veröffentlichen will.

Späte Einsicht

Im Sommer 2019 schreiben der Hertie-Vorstandsvorsitzende Frank-Jürgen Wei­se und sein Vize Bernd Knobloch noch eine ablehnende Antwort auf eine Petiti­on der Her.Tietz-Initiative, die damals seit fast einem Jahr eine historische Un­tersuchung fordert. Die Vorstände schreiben dort, sie kämen „zu einer an­deren Bewertung“ als die Initiative, zi­tiert die SZ. Wenige Monate später, im November 2019, ändert der Vorstand seine Meinung. Den Sinneswandel er­klärt Hammersen durch drei Gründe: Erstens habe das Thema mehr mediale Aufmerksamkeit bekommen; so seien verschiedene andere Unternehmerfami­lien mit ihrer Vergangenheit konfrontiert worden. Zweitens sei die Quellenlage nicht mehr so dünn wie zunächst ange­nommen – weitere Quellen, auch durch die voranschreitende Digitalisierung, hätten zu einer neuen Quellenlage ge­führt. Drittens hätte „das durchaus be­rechtigte Anliegen der Studierenden der Hertie School“ den Ausschlag für diese Entscheidung gegeben.

Einige Quellen sind bisher noch nicht berücksichtigt: In Potsdam wird derzeit der Nachlass von Hugo Zwillen­berg ausgewertet, berichtet Historiker Bähr im Deutschlandfunk. Auch erhofft er sich von den Bankakten Aufschluss über den Aufkauf durch Karg. Zu den noch lebenden Mitgliedern der Familie Tietz bestehe kein geregelter Kontakt, sagt Hammersen – dabei könnten auch im Nachlass der Familie weitere Informa­tionen zu holen sein. Und über eine wei­tere Quelle und erneute Vorrecherche im Jahr 2020 sagt Hammersen: „Die aktu­elle Vorrecherche hat ergeben, dass es eine relativ umfassende Akte zum Resti­tutionsverfahren nach dem Krieg gibt. Die erste Vorrecherche hat diese Akte noch gar nicht entdeckt, die Recherche aus dem Jahr 2008 hat vier Seiten einer Akte aus dem Restitutionsverfahren auf­getan, und was jetzt gefunden worden ist, ist eine fast vollständige Akte mit etwa 600 Seiten.“ Dass diese Akte erst jetzt auftaucht, gehört zu den weiteren Ungereimtheiten dieser Geschichte.

Bleibt noch die Frage, wie Georg Kargs Erben zur Untersuchung stehen. Dessen Enkelin, Sabine Gräfin von Nor­man, ist eines von fünf Mitgliedern des Vorstandes der Hertie-Stiftung. Die Zeit zitiert „Stimmen aus dem Stiftungs­kreis“, die sie „als Gegnerin der Sache“ bezeichnen. Sie wolle den Namen ihrer Familie schützen. Hammersen sagt hier­zu, dass der Vorstand einstimmig, also mit der Stimme Sabine Gräfin von Normans, in der Vorstandssitzung vom März 2020 für die Untersuchung gestimmt habe. „Sie hat ein Verständnis dafür ent­wickelt, dass es notwendig ist.“

Die Karg-Erben hätten sich lange da­mit schwergetan, ihren Großvater in die Nähe der Enteignungen gebracht zu se­hen. Hammersen dazu: „Die Enkel haben mit dem Begriff der Arisierung gehadert. Das klingt so, als hätte ihr Großvater die Firma direkt übernommen, dabei hat zu­nächst das Bankenkonsortium die Mehr­heit an dem Unternehmen erlangt.“ Was genau geschah, soll die Untersuchung jetzt klären.

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