Der Schweizer Stiftungsreport betrachtet jährlich den Sektor in der Eidgenossenschaft – und erlaubt so auch deutschen Akteuren den Blick über den Tellerrand. Prof. Georg von Schnurbein vom Center for Philanthropy Studies (Ceps) der Universität Basel ordnet die neuen Entwicklungen des Schweizer Stiftungssektors ein und zieht Vergleiche zu ­Deutschland. Das Interview führte Christine Bertschi.

Das Stiftungsvermögen hat sich in der Schweiz innerhalb von zehn Jahren verdoppelt, auf 139,5 Milliarden Schweizer Franken. Erstaunte Sie diese Zahl?

Georg von Schnurbein: Ich habe ein Wachstum erwartet, aber eine Verdoppelung ist doch sehr viel. Aber man muss die Zahlen mit Vorsicht genießen: Vor zehn Jahren lagen den Zahlen Schätzungen zugrunde – vielleicht war das Vermögen damals also schon größer. Die Qualität der Daten wird immer besser, vor allem jene der eidgenössischen Stiftungsaufsicht. Aber auf jeden Fall gibt es einen deutlichen Vermögungszuwachs: einerseits durch neue Stiftungen, andererseits durch die Entwicklung der Vermögenswerte. Stiftungen besitzen oft Immobilien – diese haben stark an Wert gewonnen. Die Finanzmärkte waren in den vergangenen zehn Jahren positiv, trotz aller Volatilität. Entsprechend ist es ein Wachstum, das aus den Stiftungen selbst heraus entstanden ist.

Prognostizieren Sie ein weiteres Wachstum? Handelt es sich teilweise durch die Wertentwicklung der Immobilien und der Wertpapiere auch um eine Blase, die platzen könnte?

von Schnurbein: Stiftungen sind langfristig orientiert, der Wert spielt nicht so eine große Rolle, wenn man die Immobilie einfach hält. Was die Wertpapiere betrifft: Ein Crash kann passieren, mit Einbußen ist zu rechnen. Aber vor allem große Stiftungen sind sehr professionell geworden, was Wertschwankungsreserven angeht. Sie haben vorgesorgt. Gerade während der Pandemie haben wir gemerkt, wie sie auf Unsicherheiten reagieren: Statt „Wir können nicht mehr ausgeben!“ hieß es: „Wir können noch mehr geben.“ Stiftungen haben schnell reagiert und Alternativen geboten. Da hat sich viel verändert gegenüber der Situation bei der Finanzkrise 2007/2008.

Wenn das Stiftungsvermögen wächst, steigen dann die Ausschüttungen entsprechend?

von Schnurbein: Grundsätzlich ja, aber wir müssen uns hier auf andere Zahlen stützen. Denn bei operativen Stiftungen mit zum Beispiel eigenem Pflegeheim oder Museum ist nicht das gesamte Stiftungsvermögen frei verfügbar. Swiss Foundations, der Verband der Schweizer Förderstiftungen, gibt hier mit seinen jährlichen Erhebungen Anhaltspunkte: Seine Mitglieder haben zuletzt über eine Milliarde Schweizer Franken pro Jahr an Ausschüttungen vergeben. Auch diese Zahl ist in den vergangenen Jahren gestiegen, wobei Swiss Foundations auch neue Mitglieder dazugewonnen hat. Trotzdem lässt sich daraus schließen, dass die Ausschüttungen insgesamt zugenommen haben, meine Schätzung liegt bei aktuell drei Milliarden Franken, vielleicht sogar darüber. Die Ausschüttungen haben sicherlich zugenommen: Im Sinne allgemeinen Wachstums, aber auch aufgrund der Umstände: Migrationskrise, Pandemie, Klimakrise – da wurde auch über Gebühr ausgeschüttet. Diese Entwicklung ist allerdings nicht spezifisch schweizerisch. Sowohl Vermögenswerte als auch Ausschüttungen nehmen in Deutschland eine ähnliche Entwicklung wie in der Schweiz, ungeachtet der gesetzlichen Unterschiede. Auch die Reaktionen der Stiftungen in der Pandemie waren ähnlich – vielleicht nicht ganz so schnell wie in der Schweiz, wo eine Stiftung im Kulturbereich schon einen Tag nach Beginn des Lockdowns eine Mitteilung veröffentlicht hat, dass alle gesprochenen Gelder, auch wenn Veranstaltungen abgesagt werden müssen, ausbezahlt werden.

Laut Stiftungsreport fanden im Jahr 2022 in der Schweiz 214 Liquidationen statt. Das ist gar nicht so wenig, wenn man bedenkt, dass Stiftungen eigentlich für die Ewigkeit gedacht sind. Was sind die Gründe?

von Schnurbein: Das ist ein interessanter Unterschied zu Deutschland: Nachdem Deutschland es nun endlich geschafft hat, die Verbrauchsstiftung zu etablieren, wäre das ein nächster Schritt: Die Auflösung einer Stiftung sollte erleichtert werden. Insbesondere seit der Finanzkrise 2007/2008 ist die Zahl der jährlichen Liquidationen in der Schweiz stetig gestiegen, aktuell auf um die 200. Ein Grund dafür ist, dass es schwierig geworden ist, Ertrag zu erwirtschaften. So müssen sich manche Stiftungen eingestehen, dass sie nach den ganzen Ausgaben für die Verwaltung kaum noch etwas zum Ausschütten übrighaben und es daher keinen Sinn mehr macht, die Stiftung weiterzuführen. In der Schweiz geht man zwar von einem Vermögenserhalt aus, er ist aber nicht vorgeschrieben. Für die Ewigkeit angelegt ist eine Stiftung also nur, wenn in der Stiftungsurkunde ausdrücklich steht „das Vermögen ist zu erhalten“. Die Entscheidung darüber, ob eine Stiftung liquidiert werden darf, liegt bei der Stiftungsaufsicht. Der Prozess ist nicht einfach und dauert ein bis zwei Jahre. Dieser Weg wird mit der Zeit immer häufiger gewählt, durchaus auch von größeren Stiftungen. Was auch immer häufiger gemacht wird, ist die Verwandlung in eine Verbrauchsstiftung.

Haben Sie Beispiele?

von Schnurbein: Eines wäre die Gebert-Rüf-Stiftung. Sie hat vor fünf Jahren diese Entscheidung getroffen, damals noch mit einem Vermögen um die 170 Millionen Schweizer Franken. Sie wird noch etwa zehn Jahre tätig sein, bis das Vermögen aufgebraucht ist. Oder die Mava Foundation, die 2022 nach 30 Jahren Existenz aufgelöst wurde. Der Stifter hatte das bei der Gründung festgelegt. Das ist ein großes Thema, in unserer Wahrnehmung sehr aktuell. Grundsätzlich ist das eine gute Entwicklung: Wir haben ein positives Nettowachstum, der Sektor bleibt frisch, ohne dass zu kleine Stiftungen zu Karteileichen werden. Dann heißt es: „Wir suchen uns noch zwei, drei gute Projekte, dann ist Schluss.“ Die meisten Stiftungsaufsichten stehen dieser Entwicklung pragmatisch gegenüber. Die Ostschweizer Stiftungsaufsicht hat beispielsweise die Gründung einer Dachstiftung gefördert, um kleine Stiftungen zu beherbergen.

Den Liquidationen stehen 337 Neugründungen gegenüber. Welche Tendenzen sind bei den Wirkungsbereichen und Stiftungszwecken dieser Stiftungen erkennbar?

von Schnurbein: Die Zweckformulierung ist immer stärker an aktuellen, konkreten Themen ausgerichtet. Etwa die „Förderung des Zugangs von Migranten zu Kunst und Kultur“. Die Wirkungsbereiche orientieren sich an aktuellen Themen in der Gesellschaft: Umweltschutz, Migration, Wohnraumentwicklung, aber auch politisches Engagement und Advocacy. Das betrifft natürlich nicht alle Neugründungen, sondern sind feine Trends, die wir beobachten. Im Vergleich zu den Stiftungszwecken vor zehn Jahren geht es mehr in Richtung Forschung und Bildung, dafür werden weniger Kulturstiftungen gegründet, und auch der soziale Bereich ist schwächer ausgeprägt. Letzteres hängt damit zusammen, dass der Staat im Sozialwesen zunehmend mehr Aufgaben übernimmt – auch wenn die Staatsquote in der Schweiz immer noch geringer ist als in Deutschland. Es zeigt sich: Der Stiftungssektor als Ganzes entwickelt sich aus der Gesellschaft heraus. Es sind nicht nur – wie manchmal suggeriert – private, persönliche Interessen.

Ausdrücklich werden schon im Preview des Stiftungsreports Kryptostiftungen erwähnt, und zwar insbesondere für den Kanton Zug. Was hat es mit dieser Form auf sich?

von Schnurbein: Es ist faszinierend, dass eine so alte Rechtsform wie die Stiftung nun als Wegbereiterin für eine neue Technologie dient. Die Idee der Blockchains kommt ja nicht aus der Schweiz, aber die Entwickler sind international auf der Suche nach einer passenden Rechtsform für ihre Idee bei der Schweizer Stiftung fündig geworden. Warum? Weil die Stiftung in der Schweiz sehr klare Leitlinien hat: Das Vermögen bleibt drin, der Zweck ist festgeschrieben, es gibt eine staatliche Kontrolle, aber gleichzeitig kommt der Stifterperson eine weitreichende zivilrechtliche Autonomie in der Ausgestaltung zu. Nach einigen Skandalen wurde die Regulierung strenger, und in der Folge wurden weniger neue Kryptostiftungen gegründet. 2017/2018 war ein großer Zuwachs, und jetzt 2022 gab es wieder viele Gründungen. Der steuerrechtliche Status ist bei Kryptostiftungen nicht immer eindeutig. Die Gemeinnützigkeit ist nur dann möglich, wenn die Stiftung nicht wirtschaftlich aktiv ist, sondern wenn der Zweck darin besteht, diese Technologie weiterzuentwickeln, und sie kostenfrei jedem zur Verfügung steht. In Reinform umfasst die Kryptostiftung nur das Protokoll der Blockchain, den Code. Doch es gibt auch solche mit wirtschaftlichem Zweck, die beispielweise als Bank oder Versicherung operieren – dann sind sie aber nicht gemeinnützig. Noch sind die Kryptostiftungen auf der Suche nach den für sie richtigen Geschäftsmodellen. Es ist wie beim Internet – das war zuerst auch offen und auf freie Nutzung ausgerichtet.

Apropos Trends: Welche weiteren Themen stehen dieses Jahr neben Zahlen und Fakten besonders im Fokus des Stiftungsreports?

von Schnurbein: Im Stiftungsreport werden jedes Jahr aktuelle Themen aufgegriffen, diesmal etwa „Unternehmen und Philanthropie“, was in Deutschland unter dem Namen Verantwortungseigentum oder auch einer möglichen Rechtsform der GmbH mit gebundenem Vermögen diskutiert wird. Zudem betrachtet der Report die Entwicklung des Stiftungswesens im Kanton Tessin. Dort wurde zuletzt nicht nur ein Verband, sondern auch ein Forschungs- und Beratungszentrum gegründet. Ein weiteres Thema ist „Medien und Demokratie“, ausschlaggebend war hier ein Projekt in der Westschweiz, wo mehrere Stiftungen gemeinsam eine Zeitung gekauft haben und so zu Verlegerinnen geworden sind. Zudem nehmen wir auch immer aktuelle rechtliche Entwicklungen unter die Lupe, zum Beispiel, dass neuerdings die Honorierung von Stiftungsräten gegenüber der Stiftungsaufsicht offengelegt werden muss. Ein weiteres Thema ist das neue Datenschutzrecht ab September – da sind wir etwas hinterher gegenüber der EU.

Warum und für wen ist es wichtig, diese Erhebungen zu machen?

von Schnurbein: Es bestehen sehr viele Klischees über das Stiftungswesen: Dass Stiftungen der Steuervermeidung dienen würden, abgehoben oder gar inaktiv seien. Wichtig ist deshalb, Grundlagen zu schaffen und zu klären, worüber wir überhaupt reden. Die Hälfte der Stiftungen in der Schweiz wurde nach 2000 gegründet. In Deutschland ist es ganz ähnlich. Die meisten Stiftungen sind also sehr jung und dynamisch. Durch die Möglichkeit der Verbrauchsstiftung liegt das durchschnittliche Alter der Stiftungen in der Schweiz bei etwa 20 Jahren. Das wiederum ist in Deutschland anders. Zum Beispiel wollen immer mehr Kantone ihre Stiftungslandschaft verstehen und geben dafür bei uns Studien in Auftrag. Es bestehen oftmals falsche Vorstellungen darüber, gerade was die finanzielle Kraft angeht. Wir zeigen, was die Stärken des Stiftungswesens sind. Das ist nur möglich mit Datengrundlagen.

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